Die Todeszelle
    Heike Wünsch

    Die Todeszelle

    Vor fünf Monaten habe ich eine Diskussionsbox im Koppel-Reiterstübchen eröffnet. Eigentlich kein Diskussionsthema, sondern nur eine Geschichte, eine Wahre. Um Emotionen abzubauen. Auch traurige Geschichten wollen erzählt werden. Und diese hier hatte eine Fortsetzung.

    November 1997

    Die Box maß etwa drei mal drei Meter - nicht ungewöhnlich groß, eher normal. Sie hatte ein kleines, verglastes Fenster in Kopfhöhe. Die Gitterstäbe an der Tür waren in der Mitte in V-Form ausgeschnitten, so daß der Bewohner neugierig seinen Kopf herausstrecken konnte.

    Der erste Bewohner der Box war Belinda. Eine braune Traberstute, bildhübsch und grantig. Ihr Bauch wölbte sich in ihrer Trächtigkeit. Sie zog mit Lärm und Getobe in ihr neues Heim ein, das sie innerhalb kürzester Zeit eroberte. Sie war groß und unbeholfen. Ihr Bauch für den Fortschritt der Trächtigkeit viel zu dick. Eines Morgens war es soweit - viel zu früh: das Fohlen kam in der Box zur Welt. Es war mickrig und tot. Aber es kam noch eins: der Zwilling. Der war nicht so mickrig. Aber auch tot.

    Belinda wurde ruhiger, nachdem die Trächtigkeit vorüber war. Die Besitzerin unternahm lange Ausritte mit der Stute, in den Wald, über Felder, an Flüssen entlang. An den kleinen Flüssen ist es üblich, Kanalisationszuläufe mit Deckeln zu verschließen. Diese Deckel, die vor riesigen Rohrausgängen liegen, werden mittels eines Hebels bedient, welcher senkrecht in die Luft ragt. Der Hebel wird gewöhnlich durch einen Betonklotz gesichert, so wird vermieden, daß Kinder sich daran verletzen oder unerlaubt den Deckel öffnen können. Manchmal fehlt diese Sicherung. Der Flußlauf selbst liegt vertieft zwischen steilen Grasböschungen. Nun geschah es bei einem dieser Ausritte, daß Belinda an einem Spielplatz, der auf der anderes Seite des Flußpfades lag, erschreckte. Scheuend machte sie einen Satz zur Seite, geriet in die Böschung, verlor das Gleichgewicht und stürzte, die Reiterin davon schleudernd. Die Reiterin rappelte sich auf und ging zu ihrer Stute, die immer noch in der Böschung lag. Sie riß an den Zügeln und versuchte, das Pferd durch Zurufe dazu zu bewegen, aufzustehen. Stöhnend sprang Belinda mit einem Satz auf. Blut floß aus ihrem Bauch. Entsetzt drückte die Besitzerin ihre Hand auf das Loch im Bauch ihres Pferdes. Die Stute sackte wieder zusammen. Und starb. Neben dem Pferd ragte der Hebel eines Kanalverschlusses blutverschmiert in die Luft.

    Eine Box war frei. Drei mal drei Meter groß, mit einem kleinen Fenster und einem V-Ausschnitt in der Tür, durch den ein Pferd neugierig den Kopf stecken kann.

    Picco zog in die Box ein, ein Norwegermix. Er lebe nicht lange dort, weil die Pferde des kleinen Stalles für einige Sommerwochen in die Berge umzogen, wo herrliche Weiden auf die Urlauber warteten. Die Besitzer wechselten sich in der Woche ab, um nach den Pferden zu sehen, am Wochenende zelteten sie auf der Wiese, um morgens lange Ausritte durch die Wälder zu machen. Eines Morgens lief Picco nicht mit den anderen Pferden auf die rufenden Besitzer zu. Zögernd blieb er stehen, bis er schließlich vorsichtig hinter den anderen Pferden herhumpelte. Sein Bein war gebrochen. Weideunfall. Kommt schon mal vor. Er wurde vom Tierarzt eingeschläfert.

    Eine Box war frei. Es war eine der schönsten Boxen im Stall, mit einem kleinen Fenster, durch das man raus sehen konnte. In der Tür war eine V-förmige Öffnung. Durch die streckte das Pferd neugierig seinen Kopf heraus.

    Wotan zog ein, der dreijährige Rheinländer des Stallbesitzers. Er war selbst gezogen, aus einer Vollblutstute. Sein ganzer Stolz. Als Fohlen hatte er einige Schauen besucht - nur so zum Spaß. Dann ging er für anderthalb Jahre weg, um mit einem anderen Hengstfohlen seine Kindheit zu verbringen. Als er wiederkam wurde er gelegt. Er war danach lange krank. Dann hatte er was am Bein, durch einen Tritt. Aber Gesundpflegen schweißt das Pferd mit dem Besitzer zusammen. Er war ein anhängliches, menschenbezogenes Pferd. Er verzieh alles. Selbst gezogen - so ein Pferd hat man nur einmal im Leben. Des Nachts starrte Wotan aus dem kleinen Fenster, spielte mit den Lippen am Rahmen. Plötzlich riß das Fenster aus seiner Halterung und zersplitterte in der Box. Am nächsten Morgen stand Wotan in einer Ecke seiner Box. Das Fenster fehlte, durch die Öffnung nieselte es leicht in die Box. Im Stroh lag der Metallrahmen und die Scherben. Wotan stand auf drei Beinen. Beim vierten Bein war die Sehne durchtrennt, Fleisch quoll aus der Wunde. Der Tierarzt sah keine Heilungschancen. Auf dem Reitplatz wurde Wotan erlöst.

    Eine Box ist frei. Hell und freundlich. Sie ist drei mal drei Meter groß und hat ein kleines Fenster. Durch den V-Ausschnitt an der Tür kann das Pferd seinen Kopf neugierig herausstrecken. Hat jemand Interesse?

    März 1998

    Die Box steht frei, sie ist gefüllt mit Schubkarren, Gabeln, Besen. Durch den V-Ausschnitt kann man in die kleine Abstellkammer gucken. Nur auf dem Namensschild an der Box steht ein Name. "Bondy". Bondy steht draußen auf dem Paddock, er hat keine eigene Box. Aber seine Möhren stehen immer vor dieser Box. Darum schreibt der Stallbesitzer mit Kreide seinen Namen daran. "Bondy". Die Besitzerin von Bondy wischt den Namen mit einem Schwamm wieder aus. "Ich will nicht, daß der Name von meinem Pferd an dieser Box steht". Der Stallbesitzer schreibt ihn wieder dran. Die Schwägerin der Besitzerin wischt ihn wieder aus. "Muß doch nicht sein, Stallbesitzer!". Er schreibt ihn wieder dran. "Ist doch nur wegen der Möhren". Die Kreide hat sich richtig tief in das Holz hineingedrückt, der Name läßt sich nicht mehr vollständig abwischen.

    Samstag. Bondy steht auf seinem Paddock, wälzt sich. Er hat Bauchschmerzen, keiner weiß, warum. Er wird geführt, dabei wirft er sich immer wieder hin. Der Tierarzt kommt, gibt ihm eine Spritze. Kann nichts schlimmes sein, er hat ja nichts ungewöhnliches gefressen. Bondy kommt auf den Reitplatz. Dort soll er in Ruhe gelassen werden, darf sich ruhig hinlegen. In drei Stunden ist er wieder ok, sagt der Tierarzt. Nach zwei Stunden ist gar nichts ok. Sie fangen wieder an, ihn zu führen. Einer vorne, einer mit der Peitsche hinterher. Damit er sich nicht hinschmeißt. Er hat Schmerzen, und sie schlagen ihn auch noch. Nur zu seinem besten. Der Tierarzt kommt wieder. Er fühlt hinten - nichts. Er will eine Schlauch von vorne einführen - funktioniert nicht. Soviel Kraft hat Bondy noch, um sich zu wehren. Er wird sediert. Jetzt kann der Schlauch eingeführt werden. Auch nichts. Klinik, schlägt der Tierarzt vor.

    Das kann die Besitzerin nicht. Finanziell nicht und emotional nicht. Fünf- bis sechstausend Mark, und die Chancen gering. Schmerzen fürs Pferd. Nein.

    Bondy wird in einer Box angebunden, an einen Tropf gehängt. Eine Stunde steht er ruhig, dann wacht er auf. Will sich hinschmeissen. Die Besitzerin und ihre Schwägerin wechseln sich ab - vorne am Kopf die Ohren kraulen und hinten mit der Peitsche. Vor der Box haben es sich die Gaffer mit Stühlen bequem gemacht. Besser als Kino. Samstagabend. Da will man unterhalten werden. Bondy wird ruhiger, der Tropf ist noch nicht einmal zur Hälfte durch. Sie frieren. Nach drei Stunden bricht Bondy in Schweiß aus, wird wieder unruhig. Wieder steht einer mit der Peitsche hinter ihm. Nach vier Stunden weiß die Schwägerin, daß der Tropf nichts nutzt. Und will nicht darüber nachdenken, was das bedeutet. Nach fünf Stunden ist der Tropf durch. Sie legen Bondy eine dicke Decke auf und führen ihn wieder auf den Platz. Die Gaffer nehmen sich ihre Stühle und folgen.

    Auf dem Platz wirft Bondy sich sofort hin. Sie lassen ihn. Er steht freiwillig wieder auf. Ein gutes Zeichen! Er wirft sich wieder hin. Und steht nicht mehr freiwillig auf. Mitternacht. Sie rufen den Tierarzt.

    Sie unterhalten sich, die Schwägerin und die Besitzerin. Sie haben beide gemeinsam viel mit Bondy durchgemacht. Sehr viel. Was kann der Tierarzt jetzt noch machen. Wie sollen sie entscheiden. Entscheiden muß die Besitzerin. "Ich könnte die Klinik bezahlen", schlägt die Schwägerin vor. Stolz, Geld läßt man sich nicht schenken. "Du kannst es ja abstottern", fügt sie hinzu. Nein. Nein. Klinik - Bauch aufschneiden - geringe Chancen - Quälerei fürs Pferd. Nein. Hoffen, aber keine Klinik.

    Jetzt findet der Tierarzt was, als er von hinten mit dem Arm in den Darm geht. Er findet den Dünndarm, der dort nichts zu suchen hat. Darmverschlingung. Das kann passieren, wenn eine dünne Haut, die Dünn- und Dickdarm trennt, perforiert ist und sich der Dünndarm durch dieses Loch schiebt. So ungefähr erklärt er es. Und das bedeutet?

    "Einschläfern." Ein Aufschrei erfüllt die Luft. Und eine Frage, die überflüssig ist, das weiß die Besitzerin selbst. "Gibt es denn keine Chancen mehr?" Jetzt sollte Geld keine Rolle mehr spielen. Die Schwägerin folgt dem Tierarzt zu seinem Auto. "Was ist mit Klinik? Die Kosten mal außen vor gelassen." Der Tierarzt klärt sie über das Vorgehen auf. Drei Stunden Transport - fraglich, ob Bondys Kreislauf das noch mitmacht. Dann die Operation - wenn der Dünndarm im Spiel ist, dann ist die sehr kompliziert. Alles im allem: das Risiko lohnt sich nicht. Sie gehen mit Bondy auf die Wiese. Der Tierarzt, der Stallbesitzer und Bondys Besitzerin. Die Schwägerin geht in den Stall. Sie sieht nicht, wie er stirbt, sie hört es nur. Die Besitzerin schreit auf.

    An der Box steht, leicht verwischt, Bondys Name.

    Heike Wünsch, März 1998

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